Men Gurun ist der bretonische Name der „Ile de Gavrinis“, einem der bedeutendsten Megalithheiligtümer der Menschheit aus der Jungsteinzeit. Natürlich ist diese Geschichte einer längst untergegangenen Kultur nur meiner Fantasie entsprungen, aber damit unterscheidet sie sich nicht im Geringsten von allen „wissenschaftlichen“ Darstellungen in der Literatur.
Bald neigt sich die Sonne dem Horizont zu. Das Meer hat schon begonnen aus dem Inselreich des Golf von Morbihan, dem kleinen Meer mitten in der Bretagne, durch die Landenge bei dem großen Menhir wieder ins große Meer zurück zu strömen.
Das kommt Lannic sehr gelegen, da die starke Strömung seinen schweren Einbaum pfeilschnell auf Men Gurun, die kleine Insel mit dem uralten Heiligtum, zutreibt. Er muss nur darauf achten, den schweren Einbaum mit seiner Fracht nahe genug an die Insel zu bugsieren, damit er nicht daran vorbei getragen wird.
Der große Steinkreis
Die Asche ihrer sterblichen Überreste wurde dort bestattet, wo an ihrem Todestag die Sonne mit dem Schatten des Menhirs die richtige Stelle bezeichnete. So wurden die Grabstelen zu einem Kalender und umgekehrt der Menhir in ihrer Mitte für die Nachkommen der Verstorbenen zum Zeiger für das richtige Grab, an dem sich die ganze Sippe am Jahrestag des Verstorbenen zur Totenfeier traf.
Mittsommer vor 4.000 Jahren
Der Druide wird den Hochzeitstrank mit heiligen Kräutern und den Misteln brauen, die Lannic heute geschnitten hatte, um die Frauen fruchtbar und die Männer stark zu machen. Tief im Innern des Heiligtums vollzieht der Druide mit dem Paar dann die heiligen Riten, die ihren Bund segnen und ihnen gesunde Kinder schenken werden. Morgen früh wird er alles Notwendige nach den Weisungen des Druiden vorbereiten. Jetzt will sich Lannic erst einmal am Feuer in der Hütte des Druiden trocknen und zu Abend essen.
Die Wintersonnenwende
Es ist an der Zeit, wieder zum seinem Meister nach Men Gurun zu rudern, um seine Ausbildung fortzusetzen. Zur Wintersonnenwende steht die feierliche Landverteilung auf dem Sonnenkalender und der Druide hatte Lannic im Sommer versprochen, ihn in die Geheimnisse des Heiligtums einzuweihen. Freudig begrüßen sie einander nach so vielen Wochen und sitzen bis lange in der Nacht am Herdfeuer des Druiden bei warmen Apfelmost.
Draußen ist es schon hell, als Lannic mit einem Brummschädel aufwacht. Er findet den Druiden oben am Berg von dem Eingang zum Heiligtum. Erstaunt erkennt Lannic, dass die tiefstehende, fahle Morgensonne den sonst stockfinsteren Gang der tief in den heiligen Hügel führt, ein ganzes Stück weit ausleuchtet, so dass die düstere Magie einem einladenden Gefühl von Geborgenheit gewichen ist. Ruhig nimmt ihn der Druide bei der Hand und führt ihn tiefer ins Heiligtum.
Nach zwanzig Schritten weitet sich der schmale Gang zu einer geräumigen Kammer, deren Wände aus massiven Felsblöcken bestehen, in die seltsame Kerben und Riefen gemeißelt wurden. Als Lannic sich umdreht und zum Eingang zurück blickt, erkennt er, dass der ganze Gang aus unzähligen solcher behauener und gravierter Felstafeln besteht. Der Druide erzählt:
Das Geheimnis von Men Gurun
„Dieses Heiligtum bewahrt das ganze Wissen unseres Stammes über unser Territorium. Jedes Feld und jede Weide, jede Quelle und jeder große Baum, jeder Fluss und jedes Moor ist hier verzeichnet und markiert. Sieh hier, auf dem großen Stein ist die Insel Berder gleich gegenüber dem Heiligtum. Siehst du die Spitzen, die den Fluss markieren, der sie vom Festland trennt? Und hier die bogenförmigen Linien, die in der Mitte zu einer Spirale werden, sind der Hügel, auf dem die heiligen Stiere weiden. Die Hörnerzeichen sind die gleichen wie auf dem Menhir, der die Spitze des Hügels auf der Stierwiese ziert.
Hier die Insel d’Arz, sie ist größer, als dass sie von nur einer Familie bestellt werden kann. Wie du weißt, leben dort sechs Sippen von der Schafzucht und dem Spinnen der Wolle. Deshalb wurde auf diesem Stein die Fläche durch senkrechte und waagrechte Linien geteilt und die so entstandenen Teilflächen dann mit verschiedenen Muster markiert (8). Ganz unten ist das Schlangenmoor, in dem Ottern und Nattern für Mensch und Tier gefährlich sind – deshalb ist dies den Göttern vorbehalten.
Übermorgen, zum Sonnenaufgang der Wintersonnenwende, versammeln sich die Oberhäupter der Sippen hier in der heiligen Kammer, um die Felder für das nächste Jahr auszulosen. Jede Sippe erhält die Felder, die auf dem Stein verzeichnet sind, auf das ihr Los gefallen ist. Die Heide und das Moor sind Jagdgründe und gehören auf ewige Zeiten allen – das siehst du an Pfeil und Bogen auf diesem Stein.“
Der große Tag
So wurde die Nacht an den Lagerfeuern durchwacht und am nächsten Morgen das fahle Sonnenlicht mit freudigen Gesängen begrüßt.
In der heiligen Kammer warfen die Druiden das Los und jeder Häuptling erhielt so viele Felder wie seiner Sippe zustanden. Und dann begann das lange Verhandeln über die Tauschgeschäfte. Da wurden weit von Dorf liegende Felder gegen nahe Inseln getauscht oder eine saure Wiese für einen Ochsen an Verwandte verschenkt. Hauptsache zum Mittagsmahl, das Lannic und die anderen Gehilfen für alle zubereitet hatten, sind alle zufrieden und blicken hoffnungsvoll einem neuen, fruchtbaren Jahr entgegen.
Erläuterungen

Men Gurun ist der bretonische Name der „Ile de Gavrinis“, einem der bedeutendsten Megalithheiligtümer der Menschheit aus der Jungsteinzeit. Das Alter beträgt − neuesten Untersuchungen zufolge − etwa 6000 bis 6200 Jahre; Dolmen und Cairn dürften in engem zeitlichen Zusammenhang mit den anderen bedeutenden Bauten am Golf von Morbihan (Table des Marchand, Mané Lud, Mané Rutual) errichtet worden sein, die allesamt unter Verwendung von großen Bruchstücken zerstörter Großmenhire entstanden.
Der an der Südspitze von Gavrinis liegende Cairn ist ein mit Feldsteinen bedeckter Dolmen, eine typische neolithische Architektur in Trockenbauweise: die zu beiden Seiten des Dolmens schuppenartig angeordneten Feldsteine sind mit einer Trockenmauer verkleidet und ergeben eine langsam ansteigende, stufenförmige Konstruktion. Bemerkenswert sind auch die mehr als 50 Meter Durchmesser und 6 Metern Höhe dieses bedeutenden Cairns sowie die bei seiner Errichtung verwendete Sorgfalt. Der genaue Zeitpunkt seiner Entstehung konnte bis jetzt noch nicht bestimmt werden, liegt jedoch zweifelsohne relativ spät.
Seit 3000 v. Chr. wurde er plötzlich nicht mehr benutzt. Der an der Fassade ursprünglich errichtete Holzvorbau wurde in Brand gesteckt und der Eingang zum Ganggrab unmittelbar danach mit Steinen verschlossen. Zudem wurde der gewaltige Cairn noch mit Sand überdeckt, um ihn äußerlich in einen einfachen, unauffälligen Hügel zu verwandeln.