Die Schluchten des Cannobino bei Sant‘Anna

Erst als wir die schrägen, mit Kieselsteinen ausgelegten Stufen zur Kirche Sant‘Anna hinauf schnaufen und auf dem steinernen Brückenbogen stehen, auf dem ein schmales Sträßchen die tiefe Schlucht überspannt, erschließt sich uns das gigantische Werk der Natur in seiner ganzen, imposanten Schönheit.

Vor allem, weil einige Meter weiter, hinter der Straßenbrücke von 1855 sich der mehr als 800 Jahre alte Steinbogen Dell’Avostana in kühnem Schwung über die enge Schlucht des Cannobino spannt. Fast zehn Meter sind hier die Felswände der Klamm voneinander entfernt, die der mächtige Gewölbebogen überspannt – oben breit genug für die Maultierkarawanen, die bis vor 150 Jahren hier den reißenden Fluss in der Klamm kreuzten, nach außen hin sich verjüngend, um Material zu sparen.

Was mag dieses uralte steinerne Brückchen alles getragen haben? Die Karawane mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige ist auf ihrem Zug von Mailand über Cannero bestimmt auch hier vom Piemont ins Tessin und weiter nach Köln gezogen (siehe Carmine Superiore).

Ein paar Jahrhunderte nach Errichtung der Brücke wurde an der Südseite eine kleine Kapelle erbaut, die der Muttergottes von Loreto gewidmet ist. (In Loreto befindet sich das Heilige Haus, in dem der Legende nach Maria aufgewachsen ist und sich die Verkündigung des Herrn ereignet haben soll).

Das heutige Oratorium umschließt die alte Kapelle und ist der Heiligen Anna, der Mutter Marias geweiht. Die Bilder über den Altären stellen Szenen aus dem Leben der Eltern von Jesus dar – links der Heilige Josef, über dem Hauptaltar die Heilige Anna, die Maria zeigt, wie man den kleinen Jesus badet. Rechts stellen Maria und Josef den Jüngling Jesus im Tempel vor.

Bemerkenswert ist die gar nicht so düstere Ausgestaltung des Kirchenraums, der erst vor etwa zwanzig Jahren komplett renoviert wurde.

Vor lauter Begeisterung über die Macht der Natur, den Genius früherer Baumeister und die Kunstfertigkeit der Maler hätten wir fast das bescheidenen Schild übersehen, das auf das Restaurant „Grotto“ hinweist, das unscheinbar hinter der Kirche in einem alten Tessiner Haus versteckt ist. Die meist Schweizer Gäste scheinen hier aber nicht rein zufällig vorbeizukommen, sondern haben alle schon vor längerem ihren Tisch reserviert. Kein Wunder, bietet die Küche doch feinste Tessiner Kost zu erschwinglichen Preisen (für Schweizer Verhältnisse!)

Wir lassen uns überraschen von Rindscarpaggio mit weißer Sauce nach Piemontesischer Tradition, Pilzküchlein mit frischen Steinpilzen, Nudeln mit Kalbsbries und Wildschwein Ragout. Dazu ein Rosé vom Negroamaro und wir schwelgen im Genuss!