Die Nacht im Wohnmobil auf der Mole am Hafen von Olympiada war geruhsam, wenn man gelernt hat, das gelegentliche Bellen der freilaufenden Hunde zu ignorieren.
Kultur ist angesagt und wir gehen den Tag langsam an: Lange Hose, feste Schuhe, Hut, Wasser – und schon klettern wir die alten, ausgewaschenen Holztreppen hinter der kleinen Dorfkirche hoch zum Kassenhäuschen von Stageira, der antiken Geburtsstadt von Aristoteles. Außer uns ist niemand da, der Eintritt also frei – Sparmaßnahmen die uns gefallen!
Das antike Stageira
Eine mächtige Mauer mit einem stattlichen Rundturm empfängt uns am schmalen Tor zur Akropolis, dem höchsten Punkt der byzantinischen Festung. Von hier haben wir einen fantastischen Ausblick bis zum Berg Athos im Süden, der sich wie fast immer in seinen Nebelschleier hüllt. Unter uns schimmert das klare Meer in türkis und tiefblau.
Über Holzstege führt der Weg vorbei an Fragmenten der Stadtmauer und mächtiger Wachtürme, immer wieder erkennen wir im Steineichenwald die Grundmauern byzantinischer Häuser. In der Talsohle zwischen der byzantinischen Neustadt und der griechischen Altstadt stoßen wir auf die weiß leuchtenden Marmorquader der hellenistischen Stoa, dem 2.500 Jahre alten Herz der Stadt.
Aristoteles?
Wir setzen uns ganz still auf einen der alten Steine am Marktplatz und lauschen dem Stimmengewirr der Händler, der leisen Musik der Straßenmusikanten und dem Lachen und Lamentieren der Menschen von damals. Weiter weg hämmert irgendein Handwerker auf Metall, dass es wie fernes Glockenleuten klingt.
Unbemerkt hat sich ein bärtiger Mann in einem weiten Umhang neben uns gesetzt und sieht uns schmunzelnd zu. Er ist um die fünfzig, sein Haupthaar wird schon etwas spärlich und der lockige, schwarze Bart silbergrau.
„Seht ihr die Marmorsäulen an der Markthalle? Die hat Philipp II. damals eigens aus Pella herbeischaffen lassen, um zu zeigen, dass ihm am Wiederaufbau meiner Heimatstadt viel gelegen ist. Na ja, er hat sie ja auch ein paar Jahre vorher in Schutt und Asche legen lassen, um dem Chalkidikischen Bund zu zeigen, wer hier das Sagen hat.“
Was wir bisher für eine steinerne Tribüne mit einer Treppe in der Mitte gehalten haben, wird vor unseren Augen vollständig. Säulen stützen das mit halbrunden Ziegeln gedeckte Dach, an der Rückwand ist eine umlaufende Bank, auf der Marktfrauen sitzen, vor sich ihr Obst und Gemüse in Körben, Öl und Wein in Tonkrügen, davor die griechischen Frauen beim Plausch und Feilschen.
Pella? Da waren wir doch vor zwei Wochen auf unserer Reise zur Chalkidiki! Langsam dämmert mir, wer unser neuer Freund ist: „Waren Sie nicht auch in Pella, als Hauslehrer von Alexander?“
Er schmunzelt und stellt sich vor: „Aristoteles, willkommen in Stageira – kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie hier früher alles war!“
Wir gehen über die Agora, vorbei an der Markthalle zu den Häusern der Händler, die eins neben dem anderen im Erdgeschoss ihre Werkstatt haben und im ersten Stock den Wohnraum und die Dachterrasse. „Man muss schon mit dem Herzen sehen, sonst sieht man nur noch die eingegrabenen Tonkrüge der Weinhändler und die Feuerstellen der Schmiede“ sagt unser Führer und geht ein bisschen bergab und wieder bergauf zu den Grundmauern einer ehemals feudalen Villa.
Schon damals galt wohl, mit etwas Vermögen lebt es sich besser. Wir machen eine kurze Rast auf einem schattigen Bänkchen und phantasieren über das damalige Leben und natürlich über das Leben von Aristoteles. Ob es wohl seine Villa war?
Mit dem ummauerten Hof und dem Schuppen daneben, den Vorratskammern und der Küche im Erdgeschoss und die lauschige Terrasse oben neben den Wohnräumen? Als wir ihn fragen wollen, ist er so still verschwunden wie er vorhin erschienen ist (im Archiv: „Stageira wie es Aristoteles sah„).
Das Heiligtum der Demeter & Persephone
Der älteste Teil der Stadt liegt auf der Landspitze der Halbinsel, die hier steil ins Meer abfällt. Die Sonne knallt derart auf die alten Steine, dass wir geblendet die Augen zukneifen. Ganz unten, im Heiligtum der Demeter und ihrer Tochter Persephone wurde alljährlich ein Fruchtbarkeitsfest gefeiert, damit die Aussaat auch erfolgreich Früchte tragen möge.
Wir steigen außerhalb der Stadtmauer wieder hinauf zum nördlichen Hügel, auf dessen Spitze der alte Tempel stand, dessen mächtige Quader im Sockel immer noch die gigantischen Ausmaße erahnen lassen, auch wenn zu byzantinischer Zeit darauf eine Burg errichtet wurde.
Ein Stück den Hügel hinunter, an der Stelle, wo die ursprünglichen Kolonisatoren im Türsturz über dem Stadttor einen Bären, dem heiligen Tier und Wappen Stadt, einem Löwen gegenüberstellten, wurde erst vor wenigen Jahren das Mausoleum des Aristoteles entdeckt.
Nur wenige Jahre nachdem Aristoteles in Stageira zum zweiten Mal geheiratet hatte, zog es ihn zurück nach Athen, wo er für mehr als zehn Jahre zusammen mit seinem Freund Theophrast am Lykeum lehrte. Nach dem Tod Alexanders des Großen viel er bei den Athenern in Ungnade und zog sich nach Chalkis auf Euböa in das Haus seiner Mutter zurück, wo er wenig später verstarb.
In alten Schriften wird berichtet, dass seine sterblichen Überreste ein Jahr später feierlich nach Stageira überführt wurden. Eine große Zeremonie wurde abgehalten und über seinem Urnengrab ein Altar in einem Gebäude errichtet, das „Aristoteleion“ genannt wurde und der Stadtregierung als Parlament diente. Um sicher zu sein, dass sein Geist auch weiterhin die Stadt zum Erblühen bringen würde, veranstalteten die Stadthäupter jährlich Spiele und Wettkämpfe, die als „Aristoteleia“ in die Geschichte eingegangen sind ( im Archiv: „Antikes Stageira“).
Ganz in Gedanken stehen wir vor den Fragmenten von Jahrhunderten und philosophieren mit Aristoteles:
„Das Glück ist eine Tätigkeit der Seele …, welche die beste ist und zu einem abschließenden Ziel führt. Hinzufügen müssen wir noch: ‚in einem ganzen Leben‘. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch nur ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich.“ [Nikomachische Ethik]
Dem ist nichts hinzuzufügen!